Wagner.reneeIch habe Lydie Schmit nicht selbst gekannt. Als Lydie Err Anfang 2010 die Idee einer Biografie über sie an mich herantrug, sah ich in diesem Vorschlag eine spannende Herausforderung. Das Fehlen einer persönlichen Vorstellung zu der 1988 verstorbenen Sozialistin erschien mir nicht als Nachteil, sondern versprach Unvoreingenommenheit. Reizvoll war aber auch der Gedanke, das Leben einer fortschrittlichen Politikerin zu erforschen, die sich als eine der ersten Frauen im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen der Sechziger- und Siebzigerjahre wieder auf das politische Parkett wagte.[1] Zudem agierte Lydie Schmit in einer Zeit des Umbruchs: den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Besonders die sozialliberale Koalition 1974-1979 ist für mich, die sie als Jugendliche erlebte, ein Faszinosum geblieben.

Wie Lydie Err erzählte, hat Lydie Schmit für sie persönlich eine wichtige Vorbildrolle gespielt.[2] Nicht nur für sie. Im Lauf meiner Nachforschungen erfuhr ich, dass Lydie Schmit für viele Frauen, die sie gekannt haben – ob als Lehrerin in Esch-Alzette oder als sozialistische Politikerin in Schifflingen, bei den „Femmes socialistes“ und später auf nationaler und internationaler Ebene –, Modellcharakter hatte: selbstbewusst, kritisch, engagiert, authentisch. Zudem war sie, was in Luxemburgs politischer Welt eine Seltenheit ist, ab einem gewissen Zeitpunkt offen feministisch. Lydie Schmit hat darüber hinaus sowohl Frauen als Männer mit ihrem Anspruch auf gelebten Sozialismus beeindruckt, unter dem sie häufig auch konkrete Solidarität und Hilfestellung verstand. Manchmal hat sie auch irritiert, mit ihrer Weigerung, von den Höhen der Ideologie in die Niederungen der realpolitischen Umsetzung hinabzusteigen. Doch verkörpert sie mit dieser Haltung nicht das Dilemma einer ganzen Generation?

Während Erinnerungsberichte in Luxemburg häufig veröffentlicht werden – Stichwort Zweiter Weltkrieg –, ist die Gattung des politischen Lebensbildes, in Form von politischen Memoiren oder Biografien bislang eher selten. Fällt es in einem kleinen Land aufgrund der mangelnden Distanz schwerer, eine persönliche politische Bilanz zu ziehen, die das Risiko birgt, zu brüskieren? Oder ist dieses Fehlen der Ausdruck dafür, dass man lange Zeit die Bedeutung Luxemburger Geschichte für begrenzt hielt?[3]

Verankerung in einer Bewegung und / oder Verhaftet-Sein in einem historisch relevanten Zeitabschnitt scheint, in Luxemburg wie anderswo, Voraussetzung dafür zu sein, dass politisches Leben als geschichtlich bedeutsam eingestuft wird. Beides ist für Lydie Schmit gegeben.

Lydie Schmit ist in manchem repräsentativ für ihre Epoche: Sie ist zu Anfang ihres Engagements, wie viele Lehrerinnen und Lehrer Ende der Sechzigerjahre, intellektuell und politisch interessiert, kritisch gegenüber den herrschenden Verhältnissen, bereit, für die gute Sache zu militieren. Ihr Dilemma zwischen Revolution und Reform, Utopie und Machbarkeit teilt sie ebenfalls mit vielen, die sich in dieser Zeit engagieren.

Auch als Politikerin passt sie in ihre Zeit: Sie gehört zu der Generation junger Frauen, die ab den Sechzigerjahren den Resistenzlerinnen, engagierten Hausfrauen und Politikerwitwen der Nachkriegszeit das politische Terrain streitig machen. Gebildet, nicht selten ledig und kinderlos, repräsentieren diese Newcomerinnen das Ideal der erfolgreichen, emanzipierten und unabhängigen Frau, die in der Männerwelt der Politik bestehen kann, ja sich dort sogar wohlzufühlen scheint. Zugleich sucht Lydie Schmit aber, und auch damit steht sie zu dieser Zeit nicht allein, die Solidarität von Frauen im Kampf um Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern.

Was Lydie Schmits Lebenslauf zusätzlich interessant macht, ist die Spannung zwischen einem, zeitweise gleichzeitigen, kommunalen, nationalen und internationalen Engagement. Letzteres verweist auch auf einen in Luxemburg wenig berücksichtigten Aspekt der sozialistischen Bewegung:[4] die gegenseitige Beeinflussung von nationalen Mitgliedsparteien – in diesem Fall der „Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei“ (LSAP) – und dem Bund der Sozialistischen Internationale.

Die Politikerin Lydie Schmit ist schließlich eine zentrale Figur der LSAP in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht als Macherin, nicht als Entscheidungsträgerin in einer Regierung, sondern als Denkerin, Planerin und Managerin. Dieser Einfluss ist besonders spürbar während der sechsjährigen Zeit ihrer Präsidentschaft, aber vorher, nachher und nebenher auch auf Ebene der „Femmes socialistes“ oder der Schifflinger Lokalsektion, schließlich über die nationalen Grenzen hinweg in der Sozialistischen Fraueninternationale. Das vorliegende Buch bettet den Werdegang der Person Lydie Schmit ein in die Entwicklung der LSAP während der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre, einer Epoche, in der der luxemburgische wie auch der internationale Sozialismus sich radikalisierte: Sowohl das kapitalistische System mit seinen Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse in Europa und auf die Nord-Süd-Beziehungen als auch die Blockpolitik des Kalten Kriegs wurden – zumindest verbal – in Frage gestellt.

Lydie Schmits friedenspolitischer und internationalistischer Einsatz ist exemplarisch für diese Infragestellung. Er ist aber auch das Maß, an der sich die LSAP in den Achtzigerjahren messen musste. In vielen europäischen Ländern, und auch in Luxemburg verlor die Sozialdemokratie für die Neuen Sozialen Bewegungen ihre Glaubwürdigkeit als politische Hoffnungsträgerin.

Während manche sich also abwandten, hielt Lydie Schmit bei all ihrer Kritik dem Sozialismus zeit ihres Lebens die Treue. Sogar, wenn ihre pazifistischen Prinzipien aus den eigenen Reihen heraus frontal attackiert wurden – man denke etwa an den Nato-Doppelbeschluss. Diese Loyalität mag verwundern, sie erklärt sich aber vielleicht durch zwei zentrale Aspekte der Sozialdemokratie: Wenngleich der revolutionäre Gedanke zu dieser Zeit eine gewisse Faszination auf die europäische Sozialdemokratie – und auf Lydie Schmit – ausübte, so war diese doch ganz Sozialdemokratin in dem Sinn, dass sie an die Politik der kleinen Schritte glaubte. Auch wenn es um die Veränderungsfähigkeit der eigenen Partei ging. Zweitens ist der Sozialismus nicht nur eine Idee, sondern eine historische Bewegung, in der sich Lydie Schmit verwurzelt fühlte.

Es ist sicher kein Zufall, dass Lydie Schmit schon zu ihren Lebzeiten begann, Dokumente, die sie bei ihrer Arbeit als sozialistische Historikerin und Politikerin gesammelt hatte, im Luxemburger Nationalarchiv abzugeben. Dass sie so ihre eigene politische Karriere als exemplarische Geschichte vom sozialen Aufstieg eines Arbeiterkindes zur internationalen Politikerin dokumentierte, ist dabei nur ein Nebenaspekt. Vor allem anerkannte sie ihre Partei als Bewegung mit langjähriger Tradition an, deren Geschichte es fortzuschreiben galt. Die LSAP ist bislang in Luxemburg die einzige Partei, die mit einem systematisch geführten Archiv sowie mit regelmäßigen historiografischen Veröffentlichungen zum Ausdruck bringt, dass sie einer Reflektion über die eigene geschichtliche Entwicklung Wert beimisst.

Lydie Schmits Leben steht demnach sowohl für eine Epoche wie für eine Bewegung. Aber ein drittes Element fehlt, das meist eine Biografie rechtfertigt: agieren an vorderster politischer Front. Im Unterschied zu den beiden oben genannten Staatsmännern war sie keine „Staatsfrau“, sie hat den Kurs der Luxemburger Geschichte nur kurz und nicht in erster Reihe beeinflusst. Andere Bereiche, denen sie ihren Stempel aufdrückte, vor allem ihre Aktivität in der Sozialistischen Fraueninternationale, scheinen zudem bislang wenig Niederschlag gefunden zu haben.

Es handelt sich hier also nicht um eine klassische politische Biografie als Beitrag zur Geschichte der Mächtigen. Im Gegenteil, könnte man sagen. Auch wenn sie mit mächtigen Männern und Frauen per Du war, in Lydie Schmits Leben war nicht der Wunsch nach persönlicher Macht zentral, sondern der Gedanke an die Macht der politischen Idee und der Bewegung. Dieses Buch stellt deshalb nicht nur ein Exempel der Demokratisierung politisch-historischer Darstellung dar, sondern auch ein Experiment, was die historische Wirkungskraft der Persönlichkeit Lydie Schmit angeht: Ist ihr Leben zugleich einzigartig und allgemein genug, um zu uns zu sprechen?

Überhaupt möglich wurde dieses Experiment durch den gewaltigen, aus 165 Dossiers bestehenden „Fonds Lydie Schmit“ im Luxemburger Nationalarchiv. Ihn zumindest summarisch zu erfassen, war ein Anliegen der „Fondation Lydie Schmit“, das mit der Arbeit an einer politischen Biografie vorzüglich zu vereinbaren war. Schnell war aber klar, dass auch „Expeditionen“ in andere Gefilde sich aufdrängten: zunächst das LSAP-Parteiarchiv, dann die Dokumentation der Schifflinger Gemeindeverwaltung, die Archive der Luxemburger Abgeordnetenkammer und des Europa-Parlaments, das „Centre national de l’Audiovisuel“, die Luxemburger Nationalbibliothek, schließlich das „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ in Amsterdam und die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Auch Parteikolleginnen und -kollegen von Lydie Schmit stellten Dokumente zur Verfügung.

Um die Person Lydie Schmit besser zu erfassen, lag es ebenfalls auf der Hand, auch die Menschen, die sie politisch begleitet hatten – innerhalb und außerhalb der LSAP, auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene –, nach ihren Erinnerungen zu befragen.[5] Die Auswahl dieser Personen erfolgte nach den thematischen Schwerpunkten der Biografie, nach dem Erinnerungsvermögen der Angesprochenen, sie bleibt arbiträr und damit anfechtbar. Eine Biografie ist zudem, wie jede geschichtliche Arbeit, eine subjektive Rekonstruktion: Sowohl bei den schriftlichen Quellen wie im Fall der mündlichen Überlieferung wirken sich das persönliche Erleben, die Selektivität des Gedächtnisses und die Strategie der Erzählenden genauso auf die Erzählung aus wie die Interpretation der Autorin.

Ich danke all jenen, die mit mir zusammen dieses Experiment gewagt haben: den Mitgliedern der „Fondation Lydie Schmit“, allen voran ihrem Präsidenten Ben Fayot, für die offenen Diskussionen über Lydie Schmit und die LSAP und für die Bereitwilligkeit, mir als Nicht-LSAP-Mitglied Auskunft zu geben und mir uneingeschränkten Zugang zu den Parteiarchiven zu gewähren. Ich danke allen, die mir mit ihren Auskünften die Person Lydie Schmit nahe gebracht haben, insbesondere den Interview-Partnerinnen und -Partnern in Luxemburg und Österreich. Mein Dank geht auch an die Fachkräfte der in- und ausländischen öffentlichen Archive, die mir bei der Suche nach Archivmaterial alle über das gängige Maß hinaus entgegenkamen, besonders aber der Direktorin und dem Personal des Luxemburger Nationalarchivs. Dem Personal der LSAP gebührt ein ganz besonderer Dank für das aufwendige Transkribieren der Zeitzeugen-Interviews. Und schließlich möchte ich mich bei Ben Fayot für seine Korrekturarbeiten bedanken sowie bei meiner guten Freundin Danièle Weber für die Durchsicht des Manuskripts.

Renée Wagener

[1] Vor und nach dem Ersten Weltkrieg waren in Luxemburg bereits Frauen politisch aktiv – z.B. die sozialistische, später radikalsozialistische Politikerin Marguerite Thomas-Clement.

[2] Zu diesem Aspekt, siehe auch: Err, Lydie: Lydie Schmit, mein politisches Vorbild. [undatiertes Manuskript] Archiv Lydie Err; Err, Lydie: Léif Frënn a Frëndinnen vum Lydie. [Rede, gehalten am 7.4.1998.] Archiv Lydie Err.

[3] Erst der Europäer Pierre Werner fand 1992 seinen eigenen politischen Werdegang bedeutsam genug, um seine Memoiren zu schreiben, nach ihm wurden ebenfalls Jacques Santer und Jean-Claude Juncker publizistisch gewürdigt. Unter den wenigen posthumen politischen Biografien sticht u.a. jene über Pierre Krier hervor, Protagonist der Luxemburger sozialistischen Bewegung. Krier-Becker, Lily / Letzeburger, Arbechter-Verband: Pierre Krier, ein Lebensbild. S.l. 1957.

[4] Zur Verwendung der Begriffe „Sozialismus“ und „Sozialdemokratie“, siehe Kapitel 2, Fussnote 119.

[5] Die Interviews mit den Zeitzeuginnen und -zeugen, welche die verschiedenen Kapitel begleiten, wurden in der Originalsprache belassen. Im Textkorpus erscheinen Quellenzitate und Auszüge aus Interviews ebenfalls in der Originalsprache und -schreibweise, solchen in luxemburgischer Sprache wurde in den Fußnoten eine Übersetzung beigefügt.